Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen

Schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Arbeitnehmern kommt neben dem allgemeinen Kündigungsschutz Sonderkündigungsschutz gemäß den Bestimmungen der §§ 168 ff. SGB IX – Sozialgesetzbuch IX (vormals §§ 85 ff SGB IX aF) zugute. Dieser Sonderkündigungsschutz gilt – anders als der allgemeine Kündigungsschutz – auch für leitenden Angestellten, da diese trotz ihrer leitenden Funktion Arbeitnehmer sind. Keinen Sonderkündigungsschutz haben demnach arbeitnehmerähnliche Personen oder GmbH-Geschäftsführer, da sie aufgrund eines Dienstvertrages tätig werden und somit keine Arbeitnehmer sind.

Geschützt sind diejenigen Personen, deren Schwerbehinderung offenkundig ist. Geschützt sind Schwerbehinderte deren Grad der Behinderung mit 50 oder mehr festgestellt worden ist, § 2 Absatz 2 SGB IX. Ohne eine förmliche Feststellung muss zumindest ein Antrag auf Anerkennung rechtzeitig vor Zugang der Kündigung gestellt worden sein und es muss dem Arbeitgeber die Scherbehinderung bekannt sein oder ihm zeitnah nach Zugang der Kündigung mitgeteilt werden.

Die förmliche Anerkennung als schwerbehinderter Mensch ist also keine zwingende Voraussetzung für den Sonderkündigungsschutz. (vgl. zur offenkundigen Schwerbehinderung: BAG, Urteil vom 20.01.2005, 2 AZR 675/03; BAG, Urteil vom 24.11.2005, 2 AZR 39/05).

Beträgt der Grad der Behinderung weniger als 50 aber mindestens 30, so kann festgestellt werden, dass die betreffende Person einem Schwerbehinderten gleichgestellt ist, § 2 Absatz 3 SGB IX. Im Falle einer Gleichstellung hat dagegen der Gleichstellungsbescheid konstitutive Wirkung, muss also zumindest schon beantragt sein (vgl. § 151 Abs. 2 S. 2 SGB IX), damit der Sonderkündigungsschutz des § 168 SGB IX zur Anwendung kommt (vgl. zum SGB IX aF: BAG, Urteil vom 10.04.2014, 2 AZR 647/13, Rn 35 ff., Rn 39).

Kein Sonderkündigungsschutz in bestimmten Fällen

Voraussetzung für den besonderen Kündigungsschutz der §§ 168 ff. SGB IX ist zunächst einmal – wie beim allgemeinen Kündigungsschutz – ein seit 6 Monaten bestehendes Arbeitsverhältnis, § 173 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Ausgenommen sind weiterhin Arbeitnehmer auf den in § 156 Abs. 2 Nr. 2 bis 5 SGB IX genannten Arbeitsplätzen, Arbeitnehmer die an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme teilnehmen.

Zustimmung des Integrationsamtes

Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes, § 168 SGB IX. Die Zustimmung zur Kündigung muss der Arbeitgeber vorab beim zuständigen Integrationsamt einholen.

Die Zustimmung muss dem aktuellen Arbeitgeber erteilt werden. Daran fehlt es beispielsweise, wenn im Falle eines Betriebsübergangs der Betriebserwerber kündigt und eine noch vor Betriebsübergang vom früheren Betriebsinhaber (Insolvenzverwalter) beantragte Zustimmung diesem erst nach Betriebsübergang erteilt wurde (BAG, Urteil vom 15.11.2012, 8 AZR 827/11 – Rn 18 f.).

Hat die Behörde der Kündigung zugestimmt, so kann gekündigt werden. Die Zustimmung der Behörde fällt nur dann wieder weg, wenn sie durch einen rechtskräftigen Widerspruchsbescheid bzw. eine rechtskräftige Entscheidung der Verwaltungsgerichte abgeändert worden ist (BAG, Urteil vom 23.05.2013, 2 AZR 991/11 – Rn 19).

Hat das Integrationsamt der beantragten Kündigung zugestimmt , muss innerhalb eines Monats gekündigt werden (BAG, Urteil vom 24.11.2011, 2 AZR 429/10 – Rn 26). Sind vom Arbeitgeber noch weitere Erlaubnisse einzuholen – etwa weil sich der Arbeitnehmer in Elternzeit befindet – so wird die Frist des § 168 SGB IX gewahrt, wenn der Arbeitgeber innerhalb der Frist die weitere Zustimmung beantragt und dann später zu einem Zeitpunkt kündigt, wenn alle Zustimmungen erteilt worden sind (BAG, Urteil vom 24.11.2011, 2 AZR 429/10 – Rn 25 ff.) – (Neben der Zustimmung des Integrationsamtes ist gegebenenfalls noch der Betriebsrat zu hören). Die Zustimmung des Integrationsamtes ergeht in Form eines Bescheides. Rechtsmittel gegen den Zustimmungsbescheid haben keine aufschiebende Wirkung, § 171 Absatz 4 SGB IX .

Das Zustimmungserfordernis findet jedoch keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 152 Abs. 1 Satz 3 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte (vgl. BAG zu § 69 SGB IX aF: BAG, Urteil vom 09.06.2011, 2 AZR 703/09 – Rn 18). Das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes setzt damit voraus, dass im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung entweder die

  • Schwerbehinderung bereits anerkannt (oder eine Gleichstellung erfolgt) ist oder
  • die Stellung des Antrags auf Anerkennung der Schwerbehinderung (bzw. auf Gleichstellung) mindestens drei Wochen zurückliegt

Ist der Arbeitnehmer im Kündigungszeitpunkt bereits als schwerbehinderter Mensch anerkannt, steht ihm der Sonderkündigungsschutz auch dann zu, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft nichts wusste. Allerdings ist der Arbeitnehmer in diesen Fällen gehalten, innerhalb einer Frist von drei Wochen auf den besonderen Kündigungsschutz hinzuweisen (vgl. BAG, Urteil 23.02.2010 – 2 AZR 659/08 – Rn 16). Anderenfalls wäre der Sonderkündigungsschutz möglicher Weise verwirkt. Nach einem noch nicht rechtskräftigen Urteil des LAG Düsseldorf (Urteil vom 08.09.2011, 5 Sa 672/11 – Rn 59 ff.) reicht allerdings eine Fristüberschreitung von wenigen Tagen noch nicht aus, um eine Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes annehmen zu können.
Nach einem Urteil des Bundesarbeisgerichts vom 16.02.2012 (BAG, Urteil vom 16.02.2012, 6 AZR 553/10 – Rn 10) kann sich dagegen der Arbeitnehmer nicht mehr auf die fehlende Zustimmung des Integrationsamtes berufen, wenn er zuvor eine ausdrückliche Frage des Arbeitgebers nach einer Schwerbehinderteneigenschaft wahrheitswidrig beantwortet hat.

Präventiver Kündigungsschutz

Gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX ist der Arbeitgeber gehalten, immer dann mit der Schwerbehindertenvertretung, dem Betriebsrat / Personalrat und dem Integrationsamt möglichst frühzeitig beschäftigungssichernde Maßnahmen zu erörtern, wenn personenbedingte, verhaltensbedingte oder betriebsbedingte Schwierigkeiten auftauchen. Diese Präventivmaßnahmen sind allerdings keine Voraussetzung für eine Zustimmungsentscheidung des Intergrationsamtes. Gleichwohl kann das Integrationsamt ein fehlendes Präventivverfahren im Rahmen seiner Ermessensentscheidung zugunsten des Schwerbehinderten berücksichtigen.

Betriebliches Eingliederungsmanagement

Gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX ist der Arbeitgeber ferner gehalten, bei Arbeitnehmern, die länger als 6 Wochen arbeitsunfähig krank waren, nach Rückkehr an den Arbeitsplatz ein so genanntes Eingliederungsmanagement durchzuführen. Das Eingliederungsmanagement gilt nicht nur für Schwerbehinderte sondern für alle Arbeitnehmer.

Außerordentliche Kündigung

Soll das Arbeitsverhältnis eines Schwerbehinderten fristlos (also außerordentlich) gekündigt werden, so ist besondere Eile geboten. Einerseits muss der Arbeitgeber die fristlose Kündigung – wie bei jedem anderen Arbeitnehmer auch – innerhalb von zwei Wochen nach Kenntniserlangung vom Kündigungsgrund aussprechen. Andererseits muss er binnen gleicher Frist die Zustimmung des Integrationsamtes beantragt haben, § 174 Absatz 2 Satz 1 SGB IX  (BAG, Urteil vom 01.02.2007, 2 AZR 333/06 – Rn 14). Der besonderen Eile wegen muss das Integrationsamt in diesen Fällen innerhalb von zwei Wochen über den Antrag entschieden haben. Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung – es gilt nach Ablauf der zwei Wochen die Zustimmung automatisch als erteilt (Zustimmungsfiktion). Der Arbeitgeber muss nach ausdrücklicher Zustimmung oder bloß fiktiver Zustimmung unverzüglich kündigen, den Eingang einer bereits auf dem Postweg befindlichen Entscheidung darf er noch abwarten (BAG, Urteil vom 19.04.2012, 2 AZR 118/11 – Rn 23). Lässt er ein, zwei Tage verstreichen, so kann es für eine fristlose Kündigung bereits zu spät sein (LAG Hamm, Urteil vom 19.04.2012, 15 Sa 248/12 – Rn 79 ff.).

Tipp

Es empfiehlt sich daher, zur richtigen Fristenberechnung  den Eingang des Zustimmungsantrags vom Integrationsamtbescheinigen zu lassen (BAG, Urteil vom 02.02.2006, 2 AZR 57/05).

Wichtig:

Hat das Integrationsamt nur einer fristlosen Kündigung zugestimmt, so kommt auch nur eine fristlose Kündigung in Betracht. Stellt sich später im Kündigungsschutzprozess heraus, dass nicht alle Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung gegeben sind, so ist die Kündigung ohne Weiteres unwirksam. Es kommt dann insbesondere keine Umdeutung (§ 140 BGB) der fristlose in eine fristgerechte Kündigung mehr in Betracht, da für die fristgerechte Kündigung die Zustimmung des Integrationsamts nicht vorliegt (BAG,  Urteil vom 07.07.2011, 2 AZR 355/10 – Rn 36).